Medikamente gegen unerwünschtes Verhalten?

Trotz des großen Spektrums antisozialen Verhaltens wollen nun britische Wissenschaftler der University of Cambridge herausgefunden haben, was in männlichen Jugendlichen für antisoziales Verhalten mitverantwortlich sein soll. So sollen die Körper von Jugendlichen, die “schwerwiegendes antisoziales Verhalten” gezeigt haben, unter Stress weniger Kortisol ausschütten als Jugendliche, die nicht wegen antisozialen Verhaltens aufgefallen sind. Die Kortisolwerte steigen normalerweise unter Stress, so die Wissenschaftler, und lassen die Menschen vorsichtiger werden, während sie gleichzeitig ihre Emotionen, also auch die Aggressivität, besser steuern können. Wenn es eine Verbindung zwischen Kortisolwerten und antisozialem Verhalten gebe, dann müsste man dieses als Ausdruck einer mit physiologischen Symptomen verbundenen Geisteskrankheit betrachten, sagen sie. Danach hätte es wenig Sinn, die Jugendlichen mit [Erziehungsmaßnahmen] zu disziplinieren, man müsste sie vielmehr medizinisch behandeln. Manche Menschen würden also leichter “antisozial”, ebenso wie andere zur Depression oder Angst neigen (allerdings ist hier auch umstritten, ob tatsächlich die Beeinflussung der vermeintlichen physiologischen Symptome durch Medikamente der therapeutische Königsweg ist).

Die Wissenschaftler meinen jedenfalls, man könne “neue Behandlungsweisen für schwere Verhaltensprobleme” entwickeln, wenn man genau herausgefunden hat, warum manche Jugendlichen keine normale Stressreaktion zeigen. Das liefe dann wahrscheinlich darauf hinaus, auffällige Kinder und Jugendliche medikamentös zu behandeln, um so “das Leben der betroffenen Jugendlichen und das der Gemeinschaft, in der sie leben, zu verbessern”. Zudem könne sich der Staat vielleicht Milliarden sparen – und, so könnte man hinzufügen, ändern müssten sich auch die Gesellschaft und die Bedingungen nicht, unter denen die Kinder und Jugendlichen aufwachsen.

(Quellen: telepolis, University of Cambridge)

Kommentar R.L.Fellner:

Die Frage, wie man möglichst früh und effektiv die Entwicklung von “antisozialem Verhalten” unterbinden kann, beschäftigt englische Wissenschafter schon seit Jahren. Pikanterweise werden zu diesem Verhalten aber nicht nur Kriminaltaten gezählt, sondern auch verhältnismäßig harmlose Handlungen wie etwa Graffitis, Ruhestörung, das Trinken in der Öffentlichkeit, Müll-hinterlassen, Pöbeln oder der Mißbrauch von Feuerwerken. Auch allgemein “lästiges Betragen” zählt das Innenministerium dazu (Liste).

Aus humanistischer Sicht ist diese Entwicklung nicht nur besorgniserregend, sondern auch in höchstem Maße fragwürdig: wer verfolgt das Interesse an “behandelbarem Lästigsein”, wer definiert hier die Grenzziehung zu “sozial erwünschtem” Verhalten und wie darf man sich dieses vorstellen? Erhält zukünftig jedes “ruhestörende”, “Müll hinterlassende” Kind seine tägliche Anpassungs-Pille und seinen ersten Eintrag in den Datenbanken der Krankenkassen?
Die Jugend ist entwicklungspsychologisch eine Phase der Auflehnung und Unangepasstheit – seit den Anfängen der Menschheit. Konsequenter, aber in gewissem Rahmen nachsichtiger Umgang mit dem Verhalten Jugendlicher und ein multiprofessioneller Ansatz haben sich bei massiver oder dauerhafter Verhaltensaufälligkeit bisher gut bewährt – die Ausweitung der pathologischen Grenze, wie sie englische Modell vornimmt, ist deshalb klar abzulehnen. Ein noch weitaus flaueres Magengefühl würde mir als Engländer allerdings der offensichtlich gesellschaftspolitisch inspirierte Trend verursachen, Widerstand, Auflehnung oder fehlende Sozialkompetenz als behandlungsbedürftige Krankheit zu redefinieren und damit entsprechende Angebote der Pharmaindustrie zu provozieren, statt das entsprechende Geld in die Bekämpfung der “anderen” -und wohl viel relevanteren- Ursachen zu stecken: die Verbesserung der sozialen Rahmenbedingungen dieser Jugendlichen, ein besseres Sozialsystem und vor allem Visionen, die ihr kreatives Potenzial und ihre Ressourcen anregen.

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Richard L. Fellner, DSP, MSc.

Psychotherapeut, Hypnotherapeut, Sexualtherapeut, Paartherapeut



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15.03.21